2019 erschien das Wort «Influencer» das erste Mal im Wörterbuch von Merriam-Webster. Während das Wort neu ist, das Konzept dahinter, dass einflussreiche Persönlichkeiten das Verbraucherverhalten durch Befürwortung von Produkten und Dienstleistungen beeinflussen, ist so alt wie die Marktwirtschaft. Winston Churchill hat die kubanische Zigarrenmarke Romeo y Julieta praktisch im Alleingang weltberühmt gemacht. Seit dem paffenden Premier entstanden im Influencer-Business dutzende Geschmacksvariationen: Es gibt Kidfluencer, Medfluencer, Fitfluencer, Finfluencer, Brandfluencer, Schminkfluencer, oder auch Petfluencer. Für jedes Hobby gibt es eine passende Mega-Personality im Feed.
Das Aufkommen der sozialen Medien ist zwar nicht der Grund, hat aber die Entwicklung erst so richtig befeuert. Schnell erzeugbare Inhalte, die sich leicht verbreiten und teilen lassen, sind die Geheimzutat. Es begann mit Empfehlungen für Produkte des täglichen Gebrauchs: Enttäuscht von fehlenden, gefälschten oder wertlosen Online-Reviews wirkten die Menschen, die das Gesuchte auf Youtube und eigenen Blogs zu Beginn der 2000er Jahre vorzustellen begannen, wie eine Erleichterung. Melinda Rogers startete TheMommyBlog im Jahr 2002, als Stay-At-Home-Mom gab sie Tipps und Produktempfehlungen, die aus ihrem Alltag als Mutter entsprangen. Dinge, die sie auch nutzte. Ähnlich verfahren die Liebhaberkanäle für Hobbyisten: Der ausgesprochen unterhaltsame Held der Steine mag Lego und hat eine Million Gleichgesinnte gefunden.
Sie gelten streng genommen aber nicht als Influencer, denn dazu muss eine Brand-Partnerschaft bestehen. Sonst ist man eine Social Personality. Auch Dietrichs radikale Selbstverwirklichung würde eher als Promi-Account gewertet denn als Influencer-Unterfangen. Der Begriff meint vor allem Kim und Co., also die Full-Time-Markenbotschafter. Die, die nichts tun, ausser sich als Werbeplattform anzubieten und dafür ihren weitreichenden Ruf zur Verfügung stellen.
Die Unterteilung bleibt aber schwierig. Man unterscheidet Influencer nach Interessengebiet (Beauty, Travel, Food, Fotografie, ...), Plattform (Youtube, Tik Tok, Instagram, ...), Format (Vlog, Interview, Diary, ...), Followeranzahl (Nano-, Micro-, Macro-, Mega-Influencer), Art der Bekanntheit (Sport, Film, Industrie, ...) und so weiter.
Eine weitere Spielart des Berufs der medialen Botschafter:innen sind KOLs, also Key Opinion Leader, die besonders im asiatischen Raum eine wichtige Stellung einnehmen. Ähnlich wie Melinda Rogers oder meine Kamera-Typen sind sie Expert:innen auf einem Gebiet und posten auch seltener und weniger persönliche Inhalte. Die Vermarktung geschieht über multi-channel networks (MCNs), die Partnerschaften mit Plattformen und Kanälen auf Plattformen pflegen.
Denn es ist auch durchaus möglich, von einer Kategorie in die andere zu wechseln. Einer der grössten Influencer der Gegenwart, khaby00/khaby.lame, begann mit einfachen, wortlosen Kommentaren zu den grassierenden DIY und Life-Hack-Videos, die auf TikTok zu tausenden gepostet werden. Beliebt geworden durch seine Authentizität, pflegt er inzwischen Beziehungen mit den grössten kommerziellen Brands der Welt. Aus der Social Personality wurde ein Brand Ambassador, der ohne Aufhebens die Flagge seiner Geldgeber schwingt. Geschadet hat dies seinem Ruf aber nicht, sogar seinen «signature move» mit den ausgestreckten Handflächen und hochgezogenen Schultern erfand er erst, als er bereits Millionen Follower hatte. Lele Pons begann als Komikern auf Vine, heute postet sie Produktevideos verkleidet als Day-In-The-Life-Einblicke. Mit Yachten, Lamborghinis und Coachella, das volle Programm.
Auffällig ist, dass die berufliche Kompetenz der Influencer mit dem angebotenen Produkt oft wenig Verbindung hat. Was sie als Persönlichkeit ausmacht ist auch das, was ihrer Meinung Gewicht verleiht. Und so kann eine Komikerin Rezensionen über Turnschuhe abgeben. Wenn sie nicht schlicht zu jung sind, um überhaupt in irgendwas langjährige Expertise zu haben: Like Nastya ist ein siebenjähriges Mädchen mit 115 Millionen Followern. Sie verkauft Spielzeug mit ihrem Gesicht auf Amazon.5 Für Kinder ist sie aber die Identifikationsfigur, die ihnen nähersteht als eine um Jahrzehnte ältere, professionelle Kinderspielzeugexpertin.
Und was heisst hier Persönlichkeit? hudabeauty ist einer der ersten grossen Influencer-Accounts. Huda startete 2013 und kommt heute auf über 50 Millionen Follower. Doch die echte Person, Huda Kattan, ist davon explizit getrennt, ihr persönlicher Account schafft es «nur» auf einen Zehntel der Follower wie der offensichtlich professionelle Kanal. Die Grenze zwischen Person und Marke ist also mehr als nur unscharf und lässt sich kaum allgemeingültig ziehen.
Ob es noch so etwas wie Unabhängigkeit im Influencer-Geschäft gibt, wird gelegentlich angezweifelt. Gerade im KOL-Marketing, das sich auf das Expertentum ihrer Influencer stützt, sieht die Realität gelegentlich anders aus: Ruhnn, «Chinas führende E-Commerce-Promi-Inkubations- und Marketingplattform», also ein Influencer-Brutkasten, rekrutiert ihre Expert:innen direkt aus den Social Feeds. Rund 800 meist junge Mädchen werden monatlich von der Firma systematisch nach ihrer Eignung zum KOL gescreent. Sie sind alle Amateur:innen. Gibt es also noch Influencer:innen, die nicht selbst unter Zwängen und Einflussnahme stehen? Immer weniger, sagt Lauren Hallanan, eine Spezialistin für Social Media Marketing: «It’s almost like you can’t be an independent influencer anymore [...]».
Das kann man nun gut oder schlecht finden, die Frage ist aber, was geschieht, wenn Influencer:innen gerade in diese Zweifel geraten, also nicht echt zu sein, instrumentalisiert zu werden, unehrlich zu handeln oder ihre Macht zu missbrauchen?